Reitbrook - Stadtteil der Visionäre und Umweltschützer

Milchbauer Jan-Hendrik Langeloh in Reitbrook
HA

 

Von Bakterien, die Futter bekommen, blauen Fröschen, die Vorfahrt haben, und Kühen, die sich bürsten.

 

Fläche in Quadratkilometer: 6,9
Einwohner: 517
Wohngebäude: 147
Wohnungen: 231
Immobilienpreise Grundstücke in Euro/Quadratmeter: 200
Immobilienpreise Eigentumswohnungen in Euro/Quadratmeter: keine Daten
(Quelle: Statistisches Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein, Stand 2016/2017)


Es mag wohl stimmen, was viele der 517 Reitbrooker lästerlich behaupten: dass es in ihrem Stadtteil mehr Rinder als Menschen gibt. Wer Reitbrook gleich hinter der Autobahnausfahrt Nettelnburg gefunden hat, fühlt sich tatsächlich in eine andere Zeit zurückversetzt.


Schon am Eingang zu diesem Stadtteil wird der Besucher durch die geschichtsträchtige Mühle begrüßt. Dann geht es auf hohen Deichen entlang mit einem herrlichen Blick über die Marsch. Man fährt quasi im Kreis, der sich an dem historischen Bau aus dem Jahre 1870 mit den imposanten Flügeln schließt.


Bauer mit Visionen


Gleich neben der Mühle steht ein wunderschönes altes Bauernhaus. Hier ist Richard Herrling mit seiner Familie zu Hause. Die Einheimischen nennen ihn den Umweltbauern, was als Untertreibung angesehen werden kann. Herrling betreibt auf seinem Land eine Biogasanlage. Wenn er von dem Projekt spricht, dann klingt das, als würde ein Landwirt über seine Kühe reden. Herrling "füttert" seine Bakterien, die Gas produzieren, und das ist durchaus wörtlich zu nehmen. Sonnenblumen, Gras, Hirse, Gülle, Mais und noch einige andere Zutaten gehören in die "Lieblingsspeise" der Kleinstlebewesen, mit deren Hilfe immerhin 5000 Hamburger Haushalte Strom bekommen.


Glashäuser, wohin man sieht


Wer durch die Marschlande fährt, sieht die Glashäuser an allen Ecken und Enden stehen. Eine Familie, die für ihre Treibhäuser eine ungewöhnliche Nutzung gefunden hat, sind die Martens. Wolfgang, seine Frau Meike Martens, die Schwester Tanja Witzke und ihr Mann Carsten züchten Orchideen. Schon im Hof der Gärtnerei am Vorderdeich 25 ist der Besucher überrascht, denn hier stehen winterfeste Palmen, die bis zu minus 20 Grad aushalten sollen.


Im Tropenhaus der Wechsel ins Warme. Hier blühen Phalaenopsis und Frauenschuhe in den schönsten Farben. Die Pflanzen sind zum Teil günstiger als im Baumarkt. Und sie mussten nicht transportiert werden. Stehen Orchideen zu lange im Dunkeln wie beim Transport, verkümmern die Knospen und fallen ab.


Glückliche Kühe


Auf dem Vorderdeich, andere Straßen gibt es hier kaum, geht es weiter um die Halbinsel Reitbrook in Richtung Stadt. Ein Halt bei der Nummer 275 lohnt sich. Die Familie Langeloh, das sind Gerd und Ingrid mit ihren Söhnen Sönke sowie Jan-Hendrik, und ihr Nachbar Rainer Kohrs bieten eine Hamburger Rarität: Vorzugsmilch. Der Betrieb ist einer der wenigen in ganz Deutschland, der Milch direkt von der Kuh an den Verbraucher bringt.


Gerd Langeloh sieht sich als "Milchschützer". Er kämpft dafür, dass dieses einmalige Naturprodukt nicht vom Markt verschwindet, wie schon in Schleswig-Holstein. Der Hof liefert sogar bis vor die Haustür. 950 Haushalte im Osten der Hansestadt gehören bereits zu seinen Kunden. Diese können neben Milch, pasteurisiert oder direkt von der Kuh, auch Joghurt mit oder ohne Früchte bestellen und Sahne. Dazu sagt Ingrid Langeloh: "Die kann man ruhig mit Milch verdünnen. Die ist sehr gehaltvoll."


Ihr Mann Gerd Langeloh sieht sich mit seiner Arbeit aber auch als Tierschützer. Ihm ist es wichtig, dass seine 140 Kühe möglichst artgerecht gehalten werden. Der Clou in seinem großen Stall, der von den Rindern aber nur im Winter bewohnt wird, ist eine überdimensionale Bürste, fast so groß wie in den Autowaschanlagen. Hier können sich die Tiere den Rücken und den Hals schrubben lassen. Das Gerät reagiert auf Druck. "Manchmal stehen die Kühe sogar Schlange", sagt der Landwirt. Lieber sind Laura, Kindy oder Hanka -- alle haben Namen -- im Freien. Allerdings lässt der fette Marschboden, der im Winter häufig sehr feucht ist, keine Beweidung in dieser Jahreszeit zu.


Vom Naturschutz geprägt


Auch am Ende des Vorderdeichs, an der Spitze der Halbinsel Reitbrook, die zwischen Gose und Dove Elbe liegt, ist Naturschutz das Thema. Hier ist Die Reit angesiedelt, ein 92 Hektar großes Gebiet, in dem viele seltene Vögel und Amphibien beheimatet sind. Seit 1973 ist das Gelände einer ehemaligen Ziegelei geschützt.


Inzwischen ist dort und auf den später unter Schutz gestellten Flächen Hoher und Kleiner Brook Schilfröhricht herangewachsen. Es gibt Weidengebüsch und einen urwüchsigen Birkenbruchwald. In zwei größeren Teichen sowie vielen Kleingewässern und Gräben sind Frösche und Libellen zu Hause. Sie ziehen auch Rohrdommel, Rohrweihe und andere seltene Vögel an.


Eine besondere Attraktion sind allerdings die sehr seltenen Kammmolche und die Moorfrösche, die sich in der Balzzeit Ende März/Anfang April für wenige Tage himmelblau färben. Der Naturschutzbund Deutschland (Nabu), der das Gebiet betreut, hat den Amphibien sogar die "Vorfahrt" auf der einzigen Straße durch das Gebiet eingeräumt. Es wurde eine Schranke gebaut, die nur von den Anwohnern per Chipkarte geöffnet werden kann. Lediglich im Winter ist die Durchgangsstraße für alle geöffnet.


Das ist einmalig in Hamburg. Nabu-Experten erklären, dass die sehr seltenen Kammmolche und die anderen Arten beim ersten warmen Regen im Frühjahr zu den Teichen wandern. Dort laichen sie, und nach und nach kehren die Frösche wieder zurück in den Bruchwald. Das aber selten in großer Zahl. Die Wanderung zu den Laichplätzen findet vielerorts statt, und in dieser Zeit haben die Tiere auch auf großen Straßen in Hamburg "Vorfahrt". Um ihren Rückweg kümmert man sich dagegen nur in Reitbrook, dem Stadtteil der Visionäre und Umweltschützer.


Reitbrook historisch

Das Jahr 1713 war ein Unglücksjahr für Reitbrook: Die Soldaten der am Nordischen Krieg beteiligten Truppen drangsalierten die Bewohner – und dann auch noch das: Ein Kirchenkahn, der die Reitbrooker zum Gottesdienst nach Allermöhe bringen sollte, kenterte und riss 29 Menschenin den Tod.


Seit Jahrhunderten geht es hier mittlerweile friedlich zu, und wunderschön liegt Reitbrook zwischen Gose und Dove Elbe in den Marschlanden. Mit nur 6,9 Quadratkilometern zählt es zu den kleineren Hamburger Stadtteilen. Schon in einer Urkunde von 1263 wurde sie erwähnt – die „Insula Rait“, und in einem Testament der Brüder Mildehovet hieß es rund 100 Jahre später, dass Sturmfluten ein „wüstes Reybrook“ zurückgelassen hätten. Auch auf Lorichs Elbkarte von 1568 ist „Reidbrockh“ zusehen – als eine von Weiden umgebene Siedlung zwischen den Elbarmen.


1724 hatte der Gottorper Herzog Karl Friedrich Reitbrook für 20 Jahre an Hamburg verpfändet. Sein Sohn löste das Gebiet zwar rechtzeitig wieder aus, im Rahmen des Gottorper Vertrags ging Reitbrook 1768 dann aber ganz in Hamburger Eigentum über.


1771: Die Ernte wurde vernichtet


Immer wieder mussten die Einwohner dem Wasser trotzen. 1771 wurde Reitbrook nach einem Deichbruch bei Neuengamme überschwemmt, die Ernte vernichtet. 1855 kam es wieder zu einer schweren Sturmflut mit Deichbrüchen. Die Reitschleuse wurde 1924/25 erbaut, hat ihre regulierende Funktion aber inzwischen weitgehend eingebüßt. Der 1605 von dem Landvogt und Fährmann Hermann Odemann erbaute Fährhof gilt als ältestes Haus der Hamburger Marschen. Im Fährhof wurden die „Fährbuern“ der Fähre Allermöhe – Reitbrook über die Dove Elbe bewirtet.


Der Landvogt als örtliche Obrigkeit musste sich an gründlich ausgearbeitete „Instructionen“ halten und unter anderem einen „christlichen und exemplarischen“ Lebenswandel führen. Außerdem galt:„Bei Feuersbrünsten, Sturmfluthen und anderen desgleichen großen Landes-Gefahren muss er sich besonders tätig und entschlossen zeigen, die in der Not erforderlichen Rettungs- und Sicherheits-Anstalten schleunigst treffen.“


Aus der Familie Odemann gingen neun Landvögte und etliche Kirchenvorsteher hervor, und oft ist kaum zu klären, von welchem der „Odemänner“ die Quellen nun gerade berichten. Ein Odemann – er hieß wiederum Hermann – erweiterte den Fährbetrieb später um eine Mühle und einen Ausschank („Krügerey“).


Odemanns Schraubenmühle


1773 stand die erste Mühle, die allerdings bei einem Feuer zerstört wurde und zwischenzeitlich neu errichtet werden musste. 1780 erprobte Hermann Odemann die erste Schraubenmühle zur Entwässerung Reitbrooks. Dabei beförderte eine „archimedische Schnecke“ das Wasser auf ein höheres Niveau. Odemann verkaufte seine Mühle 1809, und die Besitzer wechselten mehrfach.


1837 erwarb sie Friedrich Carl Johann Ernst Lichtwark, dessen Sohn Alfred 1852 im Müllerhaus geboren wurde. „Auch dieses alte Müllerheim ist noch gut erhalten und die Erinnerung an die Geburtsstätte dieses bedeutenden und geistvollen Mannes hält eine Tafel wach“, schrieb eine Tageszeitung in den 1930er-Jahren über den 1914 verstorbenen Kunsthallen-Direktor.


1910 war am Kirchwerder Landweg Erdgas ausgetreten. Nachdem es sich entzündet hatte, machte das „Flammenkreuz“ wochenlang Schlagzeilen. Dies war der Beginn der Gegend als Ölfördergebiet. Ab 1937 erschloss der Erdölbetrieb Reitbrook das Gebiet, und im Zweiten Weltkrieg galt Reitbrook als Deutschlands bedeutendstes Ölfeld.

von Redaktion hamburgerimmobilien.de am 18.09.2018

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