Sternschanze - Wo Widerstand noch heute Ehrensache ist

Schanzenstrasse / Schulterblatt
Andreas Laible

 

Aufsässigkeit als ironisches Zitat - das finden viele Schanzen-Touristen, wenn sie tatsächlich ein Stück Stadt suchen, das ganz anders ist.

 

Fläche in Quadratkilometer: 0,6
Einwohner: 8043
Wohngebäude: 497
Wohnungen: 4264
Immobilienpreise Grundstücke in Euro/Quadratmeter: 1202
(Quelle: Statistisches Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein, Stand 2016)

 

Von der Lederjacke des Spät-Punks grüßt ein knackiges "Fuck off!". Ein Plakat im krassen Szene-Design verrät den Namen einer Boutique: "Kauf dich glücklich!", fritz-kola wirbt so: "Nur Wasserwerfer machen wacher". Und ein Souvenirladen verkauft Taschen mit dem Aufdruck "St. Pauli" in Coca-Cola-Optik.

Aufsässigkeit als ironisches Zitat - das finden die vielen Schanzen-Touristen auf ihrem Zug vom U- und S-Bahnhof durch die Susannenstraße zur "Piazza" am Schulterblatt, wenn sie tatsächlich ein Stück Stadt suchen, das ganz anders ist.

Balz-Kino auf dem "Galão-Strich"

Schanzenviertler nennen den Platz mit den alten Grenzsteinen zwischen Altona und Hamburg im Pflaster abschätzig "Galão-Strich", weil hier bei Sonnenschein Tausende zwischen Milchkaffee, Puddingtörtchen und Cocktail großes Balz-Kino zelebrieren, ungeniert vom Elend der Obdachlosen, die sich jenseits der Fahrbahn mit ihren Habseligkeiten auf der breiten Treppe der Roten Flora eingerichtet haben - ein obszöner Kontrast zwischen Armut und flirtiger Konsumlaune. Die Anwohner-Initiative hält mit Schildern "Kein Ballermann in der Susannenstraße" gegen den Rummel.

Noch Anfang der 80er-Jahre war das Schanzenviertel ein heruntergekommenes Altbaugebiet, wo Arbeiter, Ausländer und Studenten preiswert unterkamen. Ein Milieu, wo die Idee wuchs, dass Multikulti kein Schimpfwort ist, dass Platz sein muss für neue Lebensentwürfe.

Das Viertel hat Geschichte, auch wenn der Stadtteil Sternschanze erst seit März 2008 amtlich existiert. Namensgeber ist eine 1682 erbaute, der Stadtmauer Hamburgs vorgelagerte Verteidigungsanlage. Von hier stieg am 23. August 1786 der kühne Franzose Jean-Pierre Blanchard als Erster über Hamburg mit einem Heißluftballon auf. 1866 wird die Verbindungsbahn Hamburg-Altona gebaut, mit den Bahnhöfen Sternschanze und Schulterblatt (früher beim heutigen Schanzen-Beach-Club Central Park).

Rund um die Straße Schulterblatt, die ihren Namen einem Wal-Schulterblatt verdankt, das als Kneipenschild diente, entsteht im 19. Jahrhundert ein neues Viertel mit Wohnhäusern und Fabriken. 1867 wird der Zentral-Schlachthof errichtet, ab 1880 produziert Steinway Konzertflügel, ab 1910 Montblanc Schreibgeräte.

Mythos vom gallischen Dorf

1888 entsteht am Schulterblatt das spätere Concerthaus Flora, ein Entertainment-Palast für Konzerte, Varieté, Operetten, Stars und Boxkämpfe, mit einer Stahl-Glas-Bühnenhalle von Gustave Eiffel. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Flora Kino, dann ein 1000-Töpfe-Kaufhaus. Im Jahr 1988 wird ein großer Teil für ein Musical-Theater abgerissen. Der Neubau scheitert aber am Widerstand und der Besetzung der Ruine 1989. Damit beginnt ein neuer Mythos, der das Schanzenviertel seither zum kleinen gallischen Dorf stilisiert.

Bis heute ist "die Schanze" anders als der Rest von Hamburg, ein Platz für alternative Ideen von urbanem Zusammenleben, politisch widerborstig; bei der Bürgerschaftswahl 2015 bekam die CDU hier überschaubare 2,9 Prozent (im Vergleich: SPD 26,6 Prozent, Grüne/GAL 27,0 Prozent, Linke 29,1 Prozent, AfD 1,3 Prozent). Die Rote Flora ist in der Vergangenheit immer wieder Kristallisationspunkt ritueller Randale nach friedlichen Straßenfesten gewesen, zuletzt machte sie im Zusammenhang mit dem G20-Gipfel in Hamburg 2017 Schlagzeilen. Ein starkes Symbol zwar, aber eines, dessen Zukunftsideen sicherlich nicht weit ausstrahlen.

Doch Widerstand ist Ehrensache, wenn man länger zwischen Altonaer Straße/Max-Brauer-Allee, Stresemannstraße und dem früheren Schlachthof wohnt. Widerstand gegen den Umbau des Viertels. Man möchte nicht ständig überlegen, ob der neue Klamottenladen, Imbiss oder Coffeeshop noch Szene ist oder schon Gentrifizierung, Aufwertung des Stadtteils mit gleichzeitig explodierenden Mieten und der Vertreibung der bisherigen Bewohner.

Sushi statt Döner

Viel ist da passiert in den vergangenen 20 Jahren. Etwa die Generalsanierung der alten Fabrik hinter der Einfahrt am Schulterblatt 58 Mitte der 90er-Jahre zum stylischen Backstein-Ensemble für Dutzende junger Multimedia-Agenturen, Werbe- und Softwarefirmen. Kneipen und Imbisse werden schicker, Sushi-Bars schieben sich in die alte Döner-Kultur. Schnellsprech-Koch Tim Mälzer konnte seine "Bullerei" an der Schanzenstraße platzieren, während der Schanzen-Ur-Grieche Olympisches Feuer bereits 2004 dem Jesus-Center weichen und am Schulterblatt umziehen musste. In der Juliusstraße wurde ein großes Backpacker-Hostel eröffnet.

Noch gibt es Läden wie am Schulterblatt den Schoki- und Tee-Tempel Stüdemann, die Kafferösterei und Bar kopiba, Beim Grünen Jäger, in der Sternstraße Erika's Eck oder in der Schanzenstraße die Messerexperten von Jürges. Noch gibt es auch Antiquitätenläden, Buchhandlungen und Musik-Fundgruben, in denen sich wunderbar stöbern lässt.

Immer mehr Boutiquen und Outlets

Noch ist Platz im Schanzeniertel für ein Astro-Café, für alternatives Biedermeier in der Konditorei Herr Max, das Hinterhof-Kino 3001 oder das Kulturhaus 73, wo es Theater, Musik, Lesungen und noch einiges mehr gibt.

Mode-Boutiquen und Outlets rücken derweil auf so breiter Front vor, als wollten sie den In-Klamotten-Bedarf der gesamten Republik decken. Aus Essen, Trinken und Shoppen formt sich das mentale Bermuda-Dreieck der meisten Schanzen-Gucker; die Haspa an der Ecke Juliusstraße kann vermutlich allein mit den Gebühren aus ihren drei Geldautomaten die Miete ihrer Filiale finanzieren.

Das Viertel verändert sich, selbst McDonald's hat 2009 im Sternschanzenbahnhof Fuß gefasst. Derzeit scheint die Schanze zu balancieren zwischen einer profitorientierter Erneuerung und der Suche nach Alternativen dazu. Ob und wie das fragile Schanzen-Flair zu retten ist? Die Einwohner haben da schon Ideen. Gefragt werden jedoch sie selten.

 

Sternschanze historisch

Wo sich Hamburg heute szenig gibt, war im 17. Jahrhundert so gut wie nichts los. In der sumpfigen Gegend gab es ein Gehöft, den Rosenhof, und eine Schäferei „am Schäferkamp“. Vom alten Millerntor verlief eine Landstraße Richtung Eimsbüttel, an der 1686 ein Gasthaus mit dem Namen Bey dem Schulterblatt eröffnete.

Das Schulterblatt, nach dem später der ganze Straßenzug benannt wurde, war zugleich die Grenze zwischen dänischem und hamburgischem Hoheitsgebiet. Hier, an der nordöstlichen Grenze Altonas, trafen der nördliche Teil des Hamburger Bergs (der späteren Vorstadt St. Pauli) und die Ländereien des St.-Johannis-Klosters zusammen.

Das Gebiet der ehemaligen Sternschanze entwickelte sich nach Aufhebung der Torsperre zunächst zu einem gutbürgerlich geprägten Stadterweiterungsgebiet. In großer Zahl drängten die Menschen damals aus der engen Stadt hierher – einen ähnlichen Zustrom erlebten zum Beispiel Hamm oder Eimsbüttel. 1866 wurde der erste Bahnhof Sternschanze an der Verbindungsbahn zwischen Hamburg und Altona errichtet. Auch der Schanzenpark hat eine lange Tradition – er wurde bereits von 1866 bis 1869 angelegt.

1892: der „Central Schlachthof“ kommt

Wie in vielen anderen späteren Stadtteilen verlief die Entwicklung schließlich auch hier zweigeteilt: Die stadtnahe, weiter östlich gelegene Gegend entwickelte sich kleinbürgerlicher und proletarischer als der stadtfernere Teil. Gerade nach Ansiedelung des „Central Schlachthofs“ im Jahr 1892 zogen immer mehr Menschen in die Gegend, die mit Fleischverarbeitung zu tun hatten, und rund um die Sternstraße öffneten überall die dazu gehörenden Läden.

Angestellte und Arbeiter wohnten in Massenquartieren, deren Reste sich heute zum Beispiel noch rund um die Marktstraße finden lassen. Der Rote Hof an der Bartelsstraße 55 war ein Zentrum der Arbeiterbewegung und des Widerstands gegen den Nationalsozialismus.

Namhafte Unternehmen waren hier gegründet worden. Seit 1874 hatte die Firma Carl Hagenbeck ihren Sitz am Neuen Pferdemarkt 13. Über Hagenbecks Tierpark in Stellingen ist schon viel geschrieben worden, aber der Ur-„Thierpark“ war auch nicht ohne. Das Gelände hatte eine Größe von stattlichen 6226 Quadratmetern, und Freigehege gab es zum Leidwesen der Nachbarn auch schon. Der geschäftstüchtige Carl Hagenbeck hatte seine „Handlungs-Menagerie“, in der sich oft bis zu 1000 Tiere tummelten, frühzeitig für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Gegen ein Entgelt konnten die zum Verkauf stehenden Tiere betrachtet werden, was die Unterhaltskosten für die Tierhandlung gleich senkte.

1880 eröffnete die amerikanische Pianofirma Steinway & Sons an der Schanzenstraße eine Fabrik. „Hamburg ist ein Freihafen, und man kann dort die besten und tüchtigsten Handwerker finden“, hieß es ganz pragmatisch über die Standortwahl. 1908 kam eine Firma für Schreibgeräte hinzu: die Simplo Fillerpen Company mit Sitz am Schulterblatt. 1910 brachte das Unternehmen seinen „Tintenröhrenschreiber“ „Montblanc“ auf den Markt, der den neuen Namen der Firma prägen wird: Von 1934 an heißt sie Montblanc Simplo GmbH.

Dass das Concerthaus Flora am Schulterblatt 71 einmal zu einem Symbol für Aufruhr in der ganzen Gegend werden würde, konnte bei der Eröffnung 1889 niemand ahnen. Mit Concert-Garten, Wiener Café, Gesellschaftsräumen und Billardzimmer bot es gediegene Gemütlichkeit, wie sie für die damalige Zeit typisch war. Verantwortlich für diesen Unterhaltungsmagneten zeichneten die Theaterunternehmer Mutzenbecher und Lerch, die bereits an der Reeperbahn erfolgreiche Investoren waren. Auf dem Flora-Grundstück am Schulterblatt hatte es schon seit den 1840er-Jahren mit dem Tivoli Unterhaltungskultur gegeben, dieser Vorläufer war aber längst verschwunden.

Der viel bestaunte Crystallpalast

Später wurde neben dem Hauptgebäude, das im Stil der Neorenaissance errichtet worden war, ein Teil des Gartens in eine Konstruktion aus Glas und Stahl eingehüllt – es entstand der vielbestaunte Crystallpalast. Nach dem Einbau einer festen Bühne im Jahr 1900 wurde die Flora zu einem deutschlandweit bekannten Varieté.

Davon war 80 Jahre später nichts mehr übrig. Im alten Flora-Haus, das zwischendurch mal ein Kino war und seit 1964 von 1000 Töpfe genutzt wurde, sollte 1988 ein Musicalbetrieb im Stil von „Cats“ einziehen. Der Großteil des Hauses wurde abgerissen – dann realisierte man das Projekt wegen der anhaltenden Proteste in der Nachbarschaft als Neue Flora doch lieber am Standort Stresemannstraße.

Die „Schanze“ gibt sich seit damals als Protestmilieu, das sich wacker gegen die Kommerzialisierung der Gegend stemmt – mal mehr, mal weniger erfolgreich. Querelen gab es auch ein paar Jahre später um den 1910 errichteten, heruntergekommenen Wasserturm im Schanzenpark – heute ein Hotel. Mit dem „Gesetz über die räumliche Gliederung der Freien und Hansestadt Hamburg“ vom 6. Juli 2006 im Rücken wurde die Sternschanze zum 1. März 2008 zum Stadtteil befördert.

von Redaktion hamburgerimmobilien.de am 17.09.2018

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