Rothenburgsort - Unterschätztes Viertel im Aufbruch

Entenwerder
Christian Ohde

 

Das Quartier direkt an der Elbe gehört nicht zu den beliebtesten Hamburgs - zu Unrecht. Hier dürfen manche sogar dienstlich Fußball gucken.

 

Fläche in Quadratkilometer: 7,2
Einwohner: 9137
Wohngebäude: 519
Wohnungen: 4557
Immobilienpreise Grundstücke in Euro/Quadratmeter: 250
Immobilienpreise Eigentumswohnungen in Euro/Quadratmeter: 3171
(Quelle: Statistisches Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein, Stand 2016)

 


Zentrale Lage und trotzdem im Grünen. So oder so ähnlich beginnen viele Wohnungsangebote für diesen Stadtteil. Ein paar Zeilen weiter folgt ein Mietpreis, der den Leser fast schon zwingt, von einer Mogelpackung auszugehen. Aber dann kommt die Erklärung: Rothenburgsort. Das Quartier direkt an der Elbe gehört nicht gerade zu den beliebtesten Hamburgs - zu Unrecht.


Das Stadtteilzentrum "Die RothenBurg" spiegelt das Leben hier gut wider. Im großen Saal sitzen gut 20 Damen - Charmeure würden sagen, im besten Alter - in einem Stuhlkreis und heben abwechselnd das linke und das rechte Bein. Seniorengymnastik nennt sich das. Ein paar Räume weiter findet gerade der Deutschkurs "B2 für den Beruf" statt. Etwa ein Dutzend junge Leute mit Migrationshintergrund korrigiert Bewerbungen und kämpft mit Wörtern wie "Rationalisierung" und "qualifikationsbedingte Kündigung". Im Spielzimmer nebenan beaufsichtigt eine junge Frau die Kinder, die noch zu jung für die Kita sind. "Sonst könnten viele gar nicht zum Kurs gehen", sagt sie.


Nur drei Stationen bis zur Uni


Seit 2008 gibt es die RothenBurg am Billhorner Röhrendamm. Das Angebot reicht von Sozialberatung über eine Holzwerkstatt bis hin zur Hip-Hop-Tanzgruppe. Das Zentrum ist ein Gemeinschaftsprojekt. Ursprünglich gehörten die Räume der Kirchengemeinde St. Thomas, für die das Gebäude aber zu groß wurde.


Schräg gegenüber der RothenBurg liegt ein weiteres Stadtteilzentrum. Und offenbar hat es hier Tradition, dass der Weg zu neuen Treffpunkten im Quartier lang ist. Im Frühling 2012 wurde nach vier Jahren Planung und zwei Jahren Bauzeit der neu gestaltete Rothenburgsorter Marktplatz eingeweiht. Etwa 20 Geschäfte sind in den u-förmigen Bau eingezogen, zudem fünf Arztpraxen. Außerdem sind ein Seniorenheim und Privatwohnungen untergebracht. Zweimal pro Woche ist Markt. 35 Millionen Euro hat der Investor in das neue Zentrum gesteckt. Die Anwohner freuen sich über den Marktplatz, kritisieren aber hinter vorgehaltener Hand, dass die Wohnungen in den oberen Stockwerken "für die Verhältnisse hier" doch zu teuer seien. Aber schließlich soll der Stadtteil sich wandeln.


Statt Ente gibt's Würstchen


Bei südländischeren Ambitionen geht es zu Andronaco. Der italienische Großhandel mit angeschlossenem Bistro liegt zwar kartografisch in Billbrook. "Aber gefühlt ist das Bistro noch in Rothenburgsort", sagen Pasta-Fans. Wirklich innerhalb der Grenzen des Quartiers liegt hingegen das Entenwerder Fährhaus. Dort gibt es zwar keinen Entenbraten, dafür Würstchen mit Kartoffelsalat. Die genießt man dann mit schönem Blick auf die Elbe. Von Weitem schon glänzt nebenan die große goldfarbene Skulptur auf dem Ponton des Cafés Entenwerder, das mit Traumblick auf den Peutehafen, leckerem Kaffee, Snacks und Kuchen lockt.  


Überhaupt spielt Wasser im Viertel eine große Rolle. Ein alter, nur noch von Falken genutzter Wasserturm zeugt von dieser Zeit und ist mittlerweile zu einer Art Wahrzeichen für den Stadtteil geworden. Heute sind auf dem Gelände ein Wasserwerk, ein Pumpwerk, die Schaltwarte, das Wasserlabor und die Ausstellung WasserForum - ein Pflichtprogramm für jeden Hamburger Schüler - untergebracht.


Ums Wasser dreht sich vieles


Und ist mal wieder Fußball-EM oder -WM, spielt Rothenburgsort ebenfalls eine Schlüsselrolle. Denn sobald der Schiedsrichter zur Halbzeit pfeift, muss in der Schaltwarte dafür gesorgt werden, dass mehr Wasser zum Verbraucher kommt, vor allem für die WC-Spülungen. "Die Kollegen schauen dann dienstlich Fußball", heißt es. Aber auch an der Gestaltung des Quartiers beteiligt sich das Unternehmen aktiv. So hat es die ehemalige Filtrationsanlage Kaltehofe restauriert und unter dem Motto "Wasserkunst" der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

 

Rothenburgsort historisch

Der heutige Stadtteil liegt überwiegend auf dem Billwerder (auch -wärder) Ausschlag, einem Teil der Insel Billwerder. Mit „Ausschlag“ wurde dabei ursprünglich der nicht eingedeichte Bereich nordwestlich vor dem Dorf Billwerder bezeichnet, der schon seit 1383 zu Hamburg gehörte. Die Hamburger Kaufmannsfamilie Rodenburg hatte dort viel ehemaliges Bauernland erworben, das sich unter dem Namen Rodenburgs Ort zu einer beliebten Ausflugsgegend entwickelte.


Heute befindet sich an dieser Stelle Trauns Park. Wohlhabende Familien ließen hier, wie beispielsweise auch in Billwerder oder Tatenberg, ihre Landhäuser erbauen, um der engen Stadt den Rücken zu kehren und stattdessen den Blick über die einsame Landschaft zu genießen. Doch diese Ära währte nicht lange, weil die stadtnahen Quartiere – anders als zum Beispiel die Elbvororte – viel stärker dem Industrialisierungsdruck ausgesetzt waren. Schon ab 1850 hatten sich im westlichen Billbrook große Betriebe angesiedelt, die nun immer raumgreifender wurden.


Billwerder Ausschlag und Rothenburgsort


Im ausgehenden 19. Jahrhundert entwickelten sich der Norden und der Nordosten der Gegend binnen kurzer Zeit zu Industriegebieten. Nach dem Zollanschluss und dem Bau des Freihafens zogen etliche der heimatlos gewordenen (Hafen)-Arbeiterfamilien (siehe HafenCity) hierher, ergänzt durch Zuwanderer aus anderen Landesteilen, die in Hamburg ihr Glück suchten. Die Bevölkerungszahlen stiegen geradezu dramatisch an und lagen für Billwerder Ausschlag beziehungsweise Rothenburgsort im Jahr 1894 schon bei rund 40.000.


Dass bereits damals beide Ortsnamen für das Industrie- beziehungsweise Hafenarbeiterquartier benutzt wurden, erklärt sich so: 1871 wurde Billwerder Ausschlag (inklusive Billhorn) Vorort und später (1894) Stadtteil, obwohl der viel eingängigere Name Rothenburgsort als Ortsbezeichnung überall benutzt wurde. 1938 folgte die offizielle Unterteilung in Billwerder Ausschlag und Rothenburgsort, wobei der damalige Vorort/Stadtteil Billwerder Ausschlag flächenmäßig fast mit dem heutigen Rothenburgsort identisch war. Erst 1970 wurden beide wieder zusammengeführt – diesmal endgültig als Rothenburgsort, dessen Name sich längst durchgesetzt hatte.


Cholera und Kriegszerstörung


Zurück ins 19. Jahrhundert. Der Massenansturm hatte viele soziale Probleme mit sich gebracht und Rothenburgsort stark verändert. Überall waren Hafenarbeitersiedlungen errichtet worden – zum Teil in düsterer Hinterhofbebauung. Der Rothenburgsorter Volksschullehrer Hermann Junge beschreibt in seinen Lebenserinnerungen, wie die Cholera-Epidemie des Jahres 1892 in den dicht zusammengedrängten Wohnvierteln besonders schlimm gewütet hatte.


Heute zum Teil vergessene Firmen sicherten einst viele Arbeitsplätze: die Bill-Brauerei, die Reismühle und die Schlesische Dampfer Compagnie Berliner Lloyd zum Beispiel. Genau wie das benachbarte Hammerbrook wurde Rothenburgsort bei Luftangriffen im Zweiten Weltkrieg geradezu vernichtet. Unzählige Menschen starben, nur eine Handvoll Häuser blieb stehen.


Die einst lebendige Kreuzung Billhorner Brückenstraße/Billhorner Röhrendamm besteht heute fast nur noch aus Asphaltschneisen, zeitweilig wurde sogar der Wiederaufbau der Bahnstation infrage gestellt. Rothenburgsort-Chronist Roland Burmeister hat Rothenburgsort einmal als einen Stadtteil „ohne Glück und ohne Glanz“ bezeichnet. Mal sehen, was ihm die Zukunft bringt.

von Redaktion hamburgerimmobilien.de am 20.09.2018

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