Neuengamme - Schatten der Vergangenheit, Kraft der Zukunft

Dove Elbe
picture-alliance/c.ohde/chromorange

 

Die KZ-Gedenkstätte ist Anlaufpunkt der meisten, die von außerhalb in den Stadtteil kommen. Das KZ hat eine tiefe Narbe hinterlassen.

 

Fläche in Quadratkilometer: 18,6
Einwohner: 3691
Wohngebäude: 1042
Wohnungen: 1516
Immobilienpreise Grundstücke in Euro/Quadratmeter: 234
Immobilienpreise Eigentumswohnungen in Euro/Quadratmeter: keine Daten
(Quelle: Statistisches Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein, Stand 2016/2017)


Eine Frage drängt sich auf, wenn man das erste Mal nach Neuengamme kommt: Ist das wirklich noch Hamburg? Diese putzigen Fachwerkhäuser, die sich hinterm Deich wegducken. Die kopfsteingepflasterten Sträßchen, die oft verspielte Namen haben und statt von Fußwegen von Pferdepfaden gesäumt werden. Die lang gestreckten Gewächshäuser, durch deren Milchglas ein buntes Blumenmeer hindurchschimmert. Und natürlich die weiten Felder, die dem Auge viel Raum geben. Die Großstadt ist hier gefühlt eine Ewigkeit weg.

Die zweite Frage, die sich stellt, ist diese: Wie konnte sich in diesem Vierländer Idyll das schlimmste Verbrechen der Hamburger Geschichte ereignen? Denn natürlich ist das Konzentrationslager, das die Nationalsozialisten 1938 kurz nach der Eingemeindung Neuengammes auf dem Gelände einer alten Ziegelei inmitten Neuengammes errichten ließen, untrennbar mit diesem Stadtteil verbunden.

Wer bei Google Neuengamme sucht, wird als Erstes die KZ-Gedenkstätte finden. Sie ist heute Anlaufpunkt der meisten, die von außerhalb in den Stadtteil kommen. Etwa 80.000 Besucher werden jährlich gezählt. Seit 2005 erinnert die Gedenkstätte in Ausstellungen, Veranstaltungen und pädagogischen Materialien an die mehr als 100.000 Menschen, die hier und in den 86 Außenlagern unter mörderischen Lebens- und Arbeitsbedingungen interniert waren. Fast die Hälfte von ihnen überlebte die Verfolgung nicht.

Die KZ-Geschichte lange verdrängt

Das KZ hat eine tiefe Narbe in diesem Stadtteil hinterlassen. Sie wurde lange Zeit zugedeckt, vielleicht aus Scham, sicherlich aber aus Ignoranz und Scheu vor der Auseinandersetzung. Bald nach dem Weltkrieg hatte sich die Stadt darangemacht, ehemalige Lagergebäude zu Gefängnissen umzuwidmen. In den folgenden Jahrzehnten wurde der Strafvollzug auf dem Gelände weiter ausgebaut. Erst mit dem Ende des Kalten Krieges begann sich der Senat dem schmerzhaften Erbe zu stellen. 2006 wurde die letzte Haftanstalt in Neuengamme geschlossen.

Noch Jahrzehnte nach der gewaltsamen Auflösung 1945 blieb das ehemalige Konzentrationslager somit eine Sperrzone - auch in den Köpfen der Neuengammer. Erst als die Stadt in den 1980er-Jahren das alte Klinkerwerk abreißen lassen wollte und auf Widerstand stieß, begann sich ein Geschichtsbewusstsein zu entwickeln. Ein Pastor gab damals den Anstoß zur kirchlichen Gedenkstättenarbeit in Neuengamme. Seither nehmen die Aufarbeitung des Verbrechens, aber auch die Begegnung und Versöhnung mit Häftlingen und deren Angehörigen einen festen Platz im Gemeindeleben ein. Und doch tun sich manche noch immer schwer, sich als Neuengammer zu bekennen -- aus Angst vor negativen Reaktionen.

Radtour auf der alten Bahntrasse

Gut aushalten lässt es sich in Neuengamme ja. Obschon ein Straßendorf, tritt im sogenannten Stegelviertel sogar der Charakter eines Ortskerns zutage, mit einigen kleinen Geschäften und einem großen Supermarkt. Der Rest ist Natur. Haus-, Hinter- und Kiebitzdeich schlängeln sich den Lauf von Dove und Gose Elbe entlang, es geht vorbei an schmucken Häusern und gepflegten Vorgärten, in denen sich Windmühlen drehen und HSV-Fahnen wehen.

Wem es selbst hier noch zu laut ist, der braucht nur abzubiegen ins Naturschutzgebiet Kiebitzbrack, das sich Neuengamme an seinem südöstlichen Ende mit Kirchwerder teilt. Oder genießt mit dem Fahrrad die Fahrt auf der autofreien Trasse der ehemaligen Vierländer Bahn, die bis 1961 zwischen Bergedorf und Zollenspieker verkehrte.

Schon damals prägten Gewächshäuser das Bild Neuengammes. Inzwischen sind Schnittblumen und Gartengemüse ein schwieriges Geschäft geworden. Der Markt stagniert, zudem drücken die hohen Energiekosten und die Billigkonkurrenz aus dem Ausland auf die Erlöse. Wer nicht aufgeben will, muss umstellen: auf alternative Heizformen, auf exklusive Blumensorten oder Bioprodukte. Oder er sattelt um: Pferdepensionen sind hier und dort an die Stelle früherer Landwirtschaftsbetriebe getreten.

Früher Erdgas, heute Windkraft

Es ist der Windpark Neuengamme, der seit 1995 das Bild des Stadtteils verändert. Gut 80 Jahre nach dem Ende der Erdgasförderung in Neuengamme, die 1910 mit drei weithin sichtbaren Stichflammen spektakulär begonnen hatte, wird heute regenerative Energie gewonnen. Die Windkraftanlagen leisten jeweils bis zu 2000 Kilowatt.

Aus ihrer Ruhe lassen sich die Neuengammer ungern bringen. Nicht umsonst wurde in Kücken's Gasthof am Hinterdeich 1892 der Pfeifenklub Gemütlichkeit aus der Taufe gehoben. Noch heute trifft man sich hier einmal im Monat, um sich in der sportlichen Disziplin des Langsamrauchens zu üben. Vor allem aber um dem Vereinsnamen gerecht zu werden. Gemütlich ist es in Neuengamme allemal.

Neuengamme historisch

Seit Jahrzehnten wird der Name Neuengamme stets im Zusammenhang mit dem Konzentrationslager genannt – ein schwieriges Thema, dem die Menschen in diesem Stadtteil aber nicht ausweichen. Es war das nationalsozialistische Gewaltregime, das den guten Namen des Ortes diskreditierte, und die Schönheit und die interessante Geschichte Neuengammes verdienen einen objektiven Blick.

1212 wurde es erstmals erwähnt – als Nova Insula oder auch Nova Gamma. Vermutlich war die kleine Elbinsel noch zur Zeit Albrecht von Orlamündes erstmals eingedeicht worden. Die eher schlicht wirkende Kirche St. Johannis findet 1261 erstmals Erwähnung, und Reste ihrer Feldsteinmauern stammen tatsächlich aus dem 13. Jahrhundert. Das sogenannte Brauthaus, das den Haupteingang bildet, wurde „erst“  1619 gebaut, der Glockenturm stammt von 1749/50.

Die Dove Elbe wurde im 15. Jahrhundert durch einen Verbindungsdeich zwischen den Inseln Altengamme und Neuengamme vom Hauptstrom der Unterelbe abgetrennt, vor allem, um das Fahrwasser des Hamburger Hafens zu verbessern. Erst nach der Abdämmung (1471) war die Fläche vor Neuengammes altem Deich besiedelbar geworden. Der Ort wurde mit der Zeit als typisches Straßendorf angelegt, das um die Kirche aber auch einen kleinen Dorfkern hat. Im späten 15. Jahrhundert legte man Verbindungsdeiche nach Altengamme und Kirchwerder an, die Verbindung Richtung Curslack musste zunächst noch mit Fähren hergestellt werden.

Erst der Bau der Blauen Brücke machte aus beiden einen Doppelort, getrennt nur durch die schmale Dove Elbe. Im Laufe der Zeit wurden die beiden dann immer häufiger „im Doppelpack“ genannt, zum Beispiel bei der Benennung des Bahnhofs von 1912 oder im Zusammenhang mit der Anfang der 1960er-Jahre eingerichteten Zentralschule.

Neuengamme galt als reichstes Dorf der Vierlande, wozu unter anderem auch der langjährige, erfolgreiche Getreideanbau beigetragen hatte. Daran änderten auch mehrere schwere Überschwemmungen, zum Beispiel im Jahr 1771, nichts. Wie die Menschen in den anderen Orten der Vierlande lebten aber auch die Neuengammer über Jahrhunderte vor allem vom Gemüseanbau, und bereits im 17. Jahrhundert kamen Blumen hinzu.

Das Konzentrationslager

Die SS hatte 1938 ein Gelände östlich des Neuengammer Heerwegs mit einer stillgelegten Ziegelei aufgekauft. Häftlinge aus den Konzentrationslagern Dachau, Buchenwald und Sachsenhausenmussten dort das neue KZ aufbauen. Anstelle der alten Ziegelei entstand das Klinkerwerk, in dem – so der angebliche Zweck – das Material für den Bau des gigantomanischen Neuen Hamburg nach Hitlers Vorstellung hergestellt werden sollte.

In Wahrheit ging es aber natürlich auch darum, missliebige Gegner wegzusperren, ihre Arbeitskraft auszubeuten und sie mit unmenschlichen Arbeitseinsätzen zu quälen. Von 1940 bis 1942 mussten die Häftlinge den Stichkanal graben, der vor der Blauen Brücke links abgeht, und außerdem die Dove Elbe verbreitern. Auf dem so geschaffenen Wasserweg sollten die im Klinkerwerk des Lagers hergestellten Ziegelsteine mit Schuten nach Hamburg transportiert werden. Von 1942 an wurden auf dem Gelände auch Rüstungsbetriebe eingerichtet, außerdem legte man eine Abzweigung der Vierländer Eisenbahn dorthin.

In Neuengamme wurden 106.000 Menschen gefangen gehalten, 55.000 starben. Schlechte Arbeitsbedingungen, Mangelernährung, ungenügende medizinische Versorgung und Misshandlungen durch die SS hatten zum Tod vieler Häftlinge geführt. Neuengamme war von der Gestapo auch als Hinrichtungsstätte genutzt worden, und man hatte mehr als 1000 Menschen dorthin zur Exekution überstellt. Nach dem Krieg richtete die britische Besatzungsmacht dort ein Internierungslager für NS-Funktionäre ein.

von Redaktion hamburgerimmobilien.de am 18.09.2018

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